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Orte

Schlucht “Alte Eisenbahn”

Eine Schlucht nur wenige Gehminuten von hier entfernt? Als ich auf dem Parkplatz „Alte Eisenbahn“ (Kreisgrenze Höxter/Paderborn) aus dem Auto aussteige, kann ich mir das nur schwer vorstellen. Direkt neben mir ist die L763 – eine vielbefahrene Landstraße zwischen Kleinenberg und Willebadessen. Aber auf das Vögelchen, das mir diesen Geheimtipp gezwitschert hat, ist immer Verlass. Also los. Der Boden ist an diesem Tag ziemlich matschig, deswegen fällt mein sicheren-Halt-suchender-Blick immer wieder auf meine Füße. Dabei wäre mir fast der riesige Ameisenhügel entgangen, der direkt neben dem Weg liegt und auf dem sich unzählige fleißige Tierchen tummeln. Ein kurzer Stopp also lohnt. Nach einigen Minuten erreiche ich dann auf der linken Seite die Einmündung, die mich direkt zu der Schlucht führen soll. Und tatsächlich: hier, nicht weit von der Straße entfernt und doch weit genug, um keine Autogeräusche mehr zu hören, schaue ich auf die riesigen Steinwände, die sich ihren Weg durch den Wald bahnen. Mein Blick gleitet nach unten, ich sehe Wasser und folge dem Pfad, um näher heran zu gelangen. Es ist unfassbar blau. So blau, dass ich das Gefühl habe, gerade in eine andere Welt eingetaucht zu sein (oder den besten Instagram-Filter auf meiner Handykamera entdeckt zu haben).

Einige Schritte weiter gesellt sich eine noch eine grelle Farbe hinzu. Die saftig grünen Gräser und das strahlend blaue Wasser bilden einen tollen Kontrast. Der Sonnenschein an diesem Tag tut sein Übriges. Und obwohl es warm und sonnig ist, spürt man an diesem Ort angenehm frische, klare und kühle Luft, die ich bewusst mit jedem Atemzug durch meine Lungen strömen lasse. Sie belebt, erfrischt. Wer mal kurz inne hält und die Ohren aufsperrt, kann es hören: Nichts. Absolut nichts. Nur Ruhe. Außen und innen. Andere Menschen treffe ich direkt an der Schlucht keine, vielleicht auch, weil man wissen muss, was sich hinter dieser nichtssagenden kleinen Einmündung verbirgt, die mich hierhergeführt hat. Ohne eine Info wäre auch ich vermutlich einfach daran vorbeigelaufen.

Der Weg, der direkt an der Schlucht entlangführt, ist nicht lang und dennoch ein Ort, an dem man sich lange aufhalten kann. Bevor ich mich zurück zu meinem Auto begebe, atme ich noch ein paar Mal tief ein, lasse meinen Blick schweifen, meine Ohren weit offen, versuche all diese Eindrücke einzusaugen und hoffe, dass ich in den nächsten Tagen davon zehren kann. 

Zwei Wochen später kehre ich erneut zurück. Diesmal ist der Boden auf dem Weg zur Schlucht trocken, etwas staubig. Der Ameisenhügel ist noch da, doch von den Insekten ist nichts mehr zu sehen. Offenbar sind sie umgezogen. Als ich auf die Schlucht zulaufe und näherkomme, bin ich etwas enttäuscht. Obwohl auch an diesem Tag die Sonne alles gibt, ist das Wasser gar nicht mehr SO blau und das Gras gar nicht mehr SO grün. Die Vegetation hat sich innerhalb dieser Tage scheinbar stark verändert. Dafür zeigen sich nun andere Phänomene. Pflanzen wachsen aus dem Wasser immer mehr an die Oberfläche und lassen es grünlich wirken. Ein Film scheint auf dem Wasser zu liegen, kleine Äste und Tannennadeln bleiben weich gebettet darauf liegen. Es kommt mir fast so vor, als könnte ich einfach darüber laufen. Doch der Film ist zart und zerbrechlich, lässt den Tannenzapfen, den ich hineinwerfe, einfach durch die vermeintlich schützende Schicht und ins Wasser fallen. Kurzerhand fluppt er wieder an die Oberfläche, um sich dann in den Film einzufügen. Meine Enttäuschung ist verflogen und der Hoffnung gewichen, dass mich die Natur bei meinem nächsten Besuch erneut überrascht: mit neuen Farben, neuen Schauspielen und neuen Eindrücken.

Das unter Natur- und Denkmalschutz stehende Gebiet „Alte Eisenbahn“ ist eine Bauruine von 1847/48. Die Köln-Minden-Thüringische-Verbindungs-Eisenbahn-Gesellschaft wollte mit einem Eisenbahntunnel die Bahnstrecke Hamm-Warburg durch das Eggegebirge führen. Nachdem die Gesellschaft bankrott ging, lag der bereits zu einem Drittel fertiggestellte Tunnel brach und wurde später aus Sicherheitsgründen gesprengt. Sichtbar sind heute noch die schroffen, wassergefüllten Einschnitte der Tunnelzufahrten.

Über den Autor

Hi, ich bin Pia. Seit einigen Jahren kann ich OWL meine Heimat nennen, erst war es Bielefeld, nun Paderborn. Zum Wandern steuere ich im Sommer gern das Allgäu, Österreich oder Südtirol an, Zuhause verschaffen mir regelmäßige Ausflüge in den Teuto immer wieder eine kleine Auszeit vom Alltag. Sowohl privat als auch beruflich ist das Schreiben meine Leidenschaft. Stift, Papier und (Handy-) Kamera sind immer dabei.